Kritisch und
hintergründig
Etikettenschwindel
im U-Bahn-Schacht
Bielefeld. Man kann mit Erfolg - zahllose Inszenierungen haben das bewiesen - Klassiker behutsam entstauben. Man kann sie auch kräftig modernisieren, ohne sie unkenntlich zu machen. Man kann sie sogar - und mancher traut sich das schon wieder - im klassischen Gewand spielen. Hartmut Wickert, der Regisseur der Bielefelder Inszenierung von Lessings "Minna von Barnhelm", die vor wenigen Tagen im dortigen Stadttheater Premiere hatte, wählte einen vierten Weg: Er versenkt die "Minna" - und Gotthold Ephraim Lessing gleich mit.
Das ist zunächst rein wörtlich zu nehmen: Bielefelds Theatermacher verlegen das 1763 entstandene Lustspiel in einen U-Bahn-Schacht, räumlich und zeitlich zahllose Etagen unterhalb des Olymps der Klassiker angesiedelt. Ein unendlich langer, grün gefliester, viereckiger Schlauch, ein Allerwelts-Unterwelt-Ambiente, geschaffen von Bühnenbildnerin Sandra Meurer, bildet den Rahmen für Wickerts Sicht des Lessingschen Stoffs. In diesem U-Bahn-Schacht, den ein pekuniär gewitzter Wirt offenbar zum Hotel umfunktioniert hat, sind Tellheim und Minna abgestiegen, mit ihren Bedienten, mit Sack und Pack, samt Koffern und mobilem Plattenspieler im Hutschachteldesign.
Hätte sich in dieser Szenerie eine behutsam modernisierte Fassung von Lessings in der Tat nicht mehr sehr aktuell wirkender Geschichte abgespielt, es hätte ein durchaus interessanter Theaterabend werden können. Aber Wickert verlegt nicht nur das Stück in den Untergrund, er nimmt Lessings Lustspiel komplett auseinander, puzzelt es nach Lust und Laune wieder zusammen und versenkt damit - diesmal jedoch im übertragenen Sinne - den Stoff gründlich.
Da ist dann Tellheim, gespielt von Michael Benthin, ein trenchcoat-tragender kettenrauchender Arbeitsloser, der fast ständig einen Standascher mit sich herumschleppt. Er muß sich nicht nur während des gesamten Stücks immer wieder die gleiche Tirade der Dame in Trauer (Therese Berger) anhören, die ihm Geld aufdrängen will, sondern sich auch in steten Wiederholungen mit Minna (Franziska Weber) auseinandersetzen.
Und er hat ein Problem mit der Ehre: Jedesmal, wenn er das Wort aussprechen muß, ist ihm speiübel. Ständig wiederholen sich die Phrasen, Wörter werden gedoppelt, verdreifacht, vervierfacht. Am Schluß gibt es auch noch einen textlichen Schnelldurchlauf, Lessing in 60 Sekunden, sozusagen.
Zum Glück ist das Ganze nicht sehr lang, kaum zwei Stunden braucht Wickert für seinen Lessing-Verschnitt. Und: wenigstens den Leistungen der Schauspieler gebührt ein Lob. Sie finden sich in diesem Regiekonzept gut zurecht und zeigen großes Engagement, allen voran Michael Benthin und Franziska Weber, die die Palette der Emotionen Tellheims und Minnas zwischen Phlegma und heller Aufregung, zwischen Depression und Liebesrausch beeindruckend über die Rampe bringen. Auch Jessica Higgins als girliehafte Franziska, Oliver Baierl als umtriebiger Wachtmeister Werner und Karsten Flatt als ein der Unterwelt durchaus gewachsener Just spielen ihre Rollen souverän. Gleiches gilt für Helmuth Westhausser, der den Wirt irgendwo zwischen Panoptikum und Geisterbahn ansiedelt. Den ruhigsten Part des Abends hat Joachim Wörmsdorf als gelegentlich putzendes, hauptsächlich aber in einem dicken Buch schmökerndes Faktotum.
Ob es Lessing war, was er las, war nicht zu ergründen. Aber eigentlich ist das auch gleichgültig. Die Bielefelder "Minna"-Premiere lehrt nämlich zumindest eines: Nicht überall, wo Lessing draufsteht, ist auch Lessing drin.
Das nicht sehr zahlreich erschienene Premierenpublikum - die Ränge waren fast gänzlich leer geblieben und auch im Parkett gab es noch einige freie Plätze - applaudierte anhaltend, aber ohne allzu große Begeisterung.